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topicnews · September 16, 2024

Erwin Wurm: „Kunst ist immer auch rückwirkende Schambewältigung“

Erwin Wurm: „Kunst ist immer auch rückwirkende Schambewältigung“

Er ist Künstler- und Fotografen-Royalty mit unverkennbarem Humor: Der Österreicher Erwin Wurm ist soeben 70 Jahre alt geworden und das Albertina Museum in Wien feiert ihn mit einer Retrospektive. Wir besuchten den Meister deshalb zu Hause in Schloss in Niederösterreich, eine Autostunde von Wien entfernt. Das spätgotische Hauptgebäude stammt aus dem Jahr 1570, die Gestaltung der Wohnräume wirkt bis ins Kleinste durchdacht – als könnte der Alltag zum Kunstwerk werden, als könnte man leben, ohne dass Unordnung entsteht. „Man kann Harmonie und Struktur lieben, ohne von einem Kontrollzwang besessen zu sein“, sagt Erwin Wurm, der an einem langen Holztisch Platz genommen hat, an dem zwei Dutzend Gäste sitzen können. „Ordnung schließt keine Abenteuer aus, sondern ermöglicht sie erst.“

ICON: Herr Wurm, in Kunstausstellungen wird so gut wie nie gelacht. Bei Ihnen ist das anders.

Erwin Wurm: Mich fasziniert halt das Absurde und Paradoxe. Es ist dieser skurrile Blick auf die Welt, der die Leute zum Lachen bringt. Oft genug bleibt ihnen aber das Lachen im Halse stecken. Nach meiner Erfahrung sind bittere Wahrheiten mit einem Funken Ironie besser zu ertragen.

ICON: Sie sind Österreicher. Deutsche Kunststars wie Anselm Kiefer setzen statt Ironie auf Pathos.

Wurm: Pathos kann bei Künstlern unglaublich beeindruckend sein, aber es macht uns klein. Ich wollte nie ein vor Ehrfurcht zitternder Bewunderer von Kunst sein. Klein und unterdrückt habe ich mich in der Schule gefühlt. Für dieses Lebensgefühl brauche ich die Kunst nicht. Leichtigkeit lässt uns eher schweben als Schwere.

Auch dieser Star-Architekt hat einen „Wurm“ zu Hause

ICON: Lässt man Ihre Karriere Revue passieren, fällt eine seltsame Gleichzeitigkeit auf: Ihr erster großer Erfolg fiel in die Zeit Ihrer größten privaten Tragödien.

Wurm: Ich war immer gegen die romantisierende Vorstellung, dass ein Künstler, der nicht gelitten hat, keine große Kunst erschaffen kann. Mitte der 90er-Jahre zerbrach dann meine Ehe, und meine Frau zog mit unseren vier und sechs Jahre alten Kindern von Österreich nach Deutschland. Mitten in diesem Drama starben auch noch meine Mutter und mein Vater. Bei ihrem Tod war meine Mutter erst 63 Jahre alt. Psychisch ging es mir so schlecht, dass ich anderthalb Jahre lang nicht arbeiten konnte. In dieser fatalen Zeit habe ich unbewusst eine künstlerische Wende vollzogen. Bis dahin hatte ich eine aus Büchern angelesene Vorstellung, wie ein Künstler zu arbeiten hat. Meine Messlatte waren die Genies der letzten 200 Jahre – ein Irrweg, bei dem das Scheitern vorprogrammiert war. Erst als ich am Boden lag und mir sehr vieles egal war, ist mir künstlerisch etwas geglückt.

ICON: Der Auslöser war 1996 eine Einladung aus Deutschland.

Wurm: Der Leiter des Künstlerhauses in Bremen fragte, ob ich eine Ausstellung machen wolle. Als wir uns trafen, stand ich wegen meiner Krise mit leeren Händen da. Als Ersatz für fertige Skulpturen stellte ich ihm die Idee von „One Minute Sculptures“ vor: Ich verwandle die Mitarbeiter des Museums für rund 60 Sekunden in Skulpturen und dokumentiere diese Verwandlung in Fotos.

ICON: Sie steckten den Mitarbeitern Stifte in die Nase, Gurken zwischen die Zehen, an den Ohren hingen Klebestifte, an der Unterlippe Kleiderbügel.

Wurm: Ich hatte allergrößte Zweifel, ob meine seltsame Idee etwas taugt, aber die Verantwortlichen sagten: „Okay, wir probieren es.“ Dafür werde ich denen ewig dankbar sein. Die Ausstellung war dann so erfolgreich, dass meine Idee in der Folge hundertfach kopiert wurde.

ICON: 2009 haben Sie mit Claudia Schiffer „One Minute Sculptures“ inszeniert. Ein Bild zeigt Schiffer mit einem Besen zwischen den Beinen, auf einem anderen klemmt eine Apfelsine zwischen ihren Oberschenkeln.

Wurm: Bei den Aufnahmen war sie ganz locker und hat alles mitgemacht. Ihr Management dagegen war supernervös. Ein paar Jahre später wollte die Tate Modern in London eine Ausstellung machen und das Apfelsinenbild als Cover des Katalogs verwenden. Das Management von Schiffer hat das untersagt, was mich sehr genervt hat. Eine andere Serie mit ihr durfte ich von Anfang an nicht verwenden. Da trägt sie eine lange weiße Männerunterhose, in die ich Alltagsgegenstände hineingestopft hatte, von einem Apfel bis zu einem Fläschchen mit Putzmittel. In dieser Aufmachung ließ ich sie klassische griechische Posen einnehmen. Wer weiß, vielleicht kann ich die Fotos doch irgendwann einmal ausstellen.

ICON: Die zweite Arbeit, die Sie berühmt gemacht hat, ist Ihr „Narrow House“. Erinnern Sie noch die Zündsekunde?

Wurm: Der Anstoß kam von außen. 2010 lud mich das Ullens Center for Contemporary Art ein, ein Museum in Peking mit gigantisch großen Ausstellungshallen. Ein Künstler stellte einen kompletten Zug mit Lokomotive und Waggons in Originalgröße aus. Mir dagegen wurden nur drei kleine Räume zugewiesen. Ich war verärgert und überlegte, wie ich auf die Brüskierung reagieren könnte. Ich wollte allen zeigen, dass die Museumsleitung mich irgendwo reingequetscht hatte. Meine Idee war, etwas sehr Großes ganz engzumachen. Irgendwann stand mir das Haus meiner Eltern vor Augen: die klassische Architektur aus den 60er-Jahren, die es in Österreich überall auf dem Land gibt. Mein Vater war Kriminalbeamter, meine Mutter Verkäuferin in einer Konditorei. Für mich erzählt ihr Haus etwas über Klaustrophobie und gesellschaftliche Enge. Also entwarf ich ein begehbares Haus, das 16 Meter lang und sieben Meter hoch ist, aber nur 100 Zentimeter breit. Wer das „Narrow House“ betritt, spürt sofort Bedrückung und Platzangst.

ICON: In Ihrer 2003 entstandenen Skulptur „Table of Conspiracy“ haben Sie den US-Präsidenten George Bush zum Thema gemacht. Warum der Ausflug in die Politik?

Wurm: Die Arbeit war schlecht. Ich bin ein politisch denkender Mensch, der jeden Tag fünf Zeitungen liest, dazu den „Spiegel“. Mein missglückter Versuch hat mir aber gezeigt, dass ich kein politischer Künstler bin. Wenn ich Politik in meine Arbeit hineinhole, kommt es mir so vor, als missbrauche ich sie. Deshalb wurde „Table of Conspiracy“ zerstört.

ICON: Ist engagierte Kunst wie ein Rechtsanwalt, der vor Gericht nur darlegt, was seinen Mandanten entlasten kann?

Wurm: Die Geschichte der Kunst ist die Geschichte ihrer Instrumentalisierung. Die Kunst hat schon immer als Instrument gedient, um Botschaften und Ideologien zu verbreiten und gesellschaftliche Veränderungen zu beeinflussen. Ob religiöse Kunst im Mittelalter, politische Propaganda im 20. Jahrhundert oder die sozialkritischen Werke der Moderne: Die Kunst ist ein mächtiges Werkzeug, das über ästhetische Zwecke weit hinausgeht. Gerade deshalb sollte ein Künstler, der gesellschaftlich relevante Themen behandelt, dabei seine künstlerische Relevanz nicht verlieren. Man kann die Kunst auch für das vermeintlich Gute missbrauchen.

ICON: Zum Glutkern Ihrer Kunst gehören Gefühle wie Peinlichkeit und Scham und die Angst, sich zu entblößen. Warum ist dann Nacktheit in Ihren Arbeiten kein Thema?

Wurm: Das Thema liegt nahe, denn Kunst ist immer auch rückwirkende Schambewältigung. Nacktheit ist mir aber zu nah an meiner eigenen Sexualität, und die möchte ich nicht zum Thema machen. Deshalb könnte ich niemals Fotos wie Juergen Teller machen.

ICON: Ihrem Kollegen Gerhard Richter wird die Sentenz zugeschrieben, seine Bilder seien klüger als er selbst. Ist das bei Ihnen auch so?

Wurm: Es gibt bei Künstlern zwei unterschiedliche Strategien. Die einen haben eine Idee, entwickeln ein Konzept für die Realisierung und folgen diesem Plan von A bis Z. Die anderen schlendern auf Pfaden, die erst bei der Arbeit sichtbar werden. Für mich ist die zweite Strategie produktiver. Ich weiß mich auf dem richtigen Weg, wenn ich nicht wie ein Dirigent vor einer Skulptur stehe, sondern mich von ihr leiten lasse. Die Form entsteht erst während der Arbeit, nicht schon auf dem Skizzenblock. Ein Zufall kann schöner und schlüssiger sein als der ausgeklügelteste Plan.

ICON: Wer ist Ihr strengster Kritiker?

Wurm: Meine heutige Frau. Sie war auch mal Künstlerin und hat deshalb einen superguten Blick. Ihr schonungsloses Urteil begleitet mich seit 22 Jahren. Ihre Kritik ärgert mich jedes Mal, aber hinterher muss ich ihr oft recht geben. Wenn sie sagt, eine Skulptur ist fertig, dann glaube ich das auch. Mein eigenes Urteil schwankt bis zuletzt je nach Stimmung.

ICON: Ein Schmäh bei malenden Künstlern lautet: „Skulptur ist das, worüber man stolpert, wenn man zurücktritt, um ein Gemälde zu betrachten.“

Wurm: Na ja, jede Disziplin stellt ihre eigene Bedeutung über die der anderen. So ist es eben auch in der Malerei. Ich habe kein Problem damit, zumal ich ursprünglich Maler werden wollte. Den Bezug zur Bildhauerei musste ich mir erst erarbeiten.

ICON: Die Bilder an Ihren Wänden reichen von Albrecht Dürer und Joseph Beuys bis zu Alex Katz und Francesco Clemente. Können Sie ein Bild lieben, wenn Sie den Maler aufgrund persönlicher Bekanntschaft für ein ausgemachtes Scheusal halten?

Wurm: Ja. Wenn ein Künstler einen schlechten Charakter hat, heißt das nicht, dass seine Kunst deshalb ebenfalls schlecht ist. Bei Werken für meine Sammlung geht es darum, dass sie mich ansprechen.

Auch so ein Super-Sammler

ICON: Ein Glaubenssatz von Künstlern lautet: „Verlässt du die Kunst für einen Tag, verlässt sie dich für drei Tage.“ Sie dagegen erlauben es sich, zwei, drei Monate im Jahr in Ihrem Haus auf der griechischen Künstlerinsel Hydra zu faulenzen.

Wurm: Das war mein supertoller Plan, als ich das Haus vor sechs Jahren gekauft habe. Ich bildete mir ein, so eine Pause sei wie Fasten, wo man am Ende einen Riesenhunger hat. Nach den ersten zwei Wochen fand ich es aber unendlich fad. Ich bin kein Strandsitzer, der es genießt, immer noch brauner zu werden. Gott sei Dank gibt es auf Hydra einen kleinen Laden für Hobbymalerbedarf. Ich kaufte Leinwände und Ölfarben und begann zu malen – zum ersten Mal nach sehr langer Zeit. Und siehe da, die Malerei hat mich gepackt und seither nicht mehr losgelassen.

ICON: Wie viele Jahre liegen zwischen Ihrem Spiegelbild und dem Bild, das Sie selbst von sich haben?

Wurm: Im Juli bin ich 70 geworden, aber im Innern fühle ich mich noch wie 30 oder 40. Nur wenn ich in den Spiegel schaue, lacht mich das Alter an.

ICON: Jeff Koons, 69 Jahre alt, isst auf Anweisung seiner Gesundheitsberater exakt 48 Pistazien pro Tag. Er hofft, mit einem strikten Körperreglement mindestens 100 Jahre alt zu werden.

Wurm: Ich verstehe das. Dreimal in der Woche kommt ein Fitnesstrainer zu mir nach Hause, und ich mache gerade eine Hoch-Ozon-Therapie. Dabei wird einem Eigenblut entnommen, mit hoch konzentriertem Ozon angereichert und anschließend dem Körper zurückgegeben. Warum mache ich das? Ich habe ein schönes Leben, und das soll noch möglichst lange weitergehen. Meine Frau ist 23 Jahre jünger als ich, und meine 13-jährige Tochter ermahnt mich, ja gesund zu bleiben. Meine Eltern sind an Krebs gestorben, meine sechs Jahre jüngere Schwester hat seit 2005 Parkinson. Einige meiner Freunde sind an Krebs gestorben. Wie heißt es so schön: Die Einschläge kommen näher.

ICON: Georg Baselitz konstatierte einmal: „Wer nicht säuft und nicht verrückt ist, wer nicht auffällt mit seinem Sozialprogramm, der kommt in der Kunst nicht vor.“ Unterschreiben Sie das?

Wurm: Vor 30 Jahren hätte ich Baselitz vielleicht zugestimmt und gesagt, wenn man früh ins Bett geht und gesund lebt, entsteht selten große Kunst. Die Kunstwelt hat sich aber grundlegend verändert. Benebelt kommt heute keiner mehr voran. Ich arbeite besser, wenn ich einen klaren Kopf habe. Die Alkoholexzesse und das Rauchen habe ich deshalb aus meinem Leben gestrichen und Drogen nehme ich auch keine.

ICON: Die schwarze Seite Ihres Humors wurde sichtbar, als Sie 2008 für die „ZEIT“ eine „soziale Skulptur“ mit dem Titel „44 Vorschläge“ anfertigten. Vier Ihrer Vorschläge lauteten: „Weisen Sie bei einem Behindertentreffen darauf hin, dass eine Zwangskastration und -sterilisation vom Leidensdruck eines unerfüllten Sexuallebens befreit … Schwärmen Sie beim nächsten Taxifahrer mit Turban über die flinken kleinen Kinderhände Indiens, die es möglich machen, dass wir Designer-Kleidung so günstig bekommen … Bevorzugen Sie Robbenfellschuhe … Auch sozial Schwache können zur Rettung des Bankwesens beitragen, indem sie jeden zweiten Tag die Heizung kaltlassen.“

Wurm: Bei dieser „sozialen Skulptur“ der Ungeheuerlichkeiten habe ich Aussagen niedergeschrieben, die von realen Politikern stammten. Ich wollte sie entblößen. Es war sicher meine problematischste Arbeit, weil ich den Bösartigkeiten allein durch die Wiederholung zusätzlichen Raum gegeben habe. Heute würde ich das sicher nicht mehr so machen.

ICON: Georg Baselitz wurde als Hans-Georg Kern geboren, A. R. Penck als Ralf Winkler. Haben Sie mal erwogen, Wurm durch einen Künstlernamen zu ersetzen?

Wurm: Ja, wegen meiner beiden Söhne. Ich wollte ihnen meine Erlebnisse ersparen. Deshalb rief ich das zuständige Amt in Wien an und sagte, ich würde gern meinen Namen ändern lassen. Die Dame am anderen Ende der Leitung fragte, wie ich denn heiße. Als sie Wurm hörte, sagte sie voller Mitgefühl: „Oje, ich verstehe Ihren Wunsch nur zu gut.“

ICON: Warum heißen Sie dann bis heute Wurm?

Wurm: Weil beide Söhne ihren Nachnamen behalten wollten.

ICON: Hätten Sie mit einem klangvolleren Namen schneller Karriere gemacht?

Wurm: Nein. Ich bin früh darauf gekommen, dass die Menschen in Deutschland und anderswo dachten, Erwin Wurm sei mein Künstlername. Man fand es lustig, dass sich jemand ein so bescheuertes Pseudonym zugelegt hat.

ICON: Angenommen, man zwingt Sie heute mit vorgehaltener Waffe, sich einen Künstlernamen zuzulegen: Welchen wählen Sie?

Wurm: Erwin Wurst. Oder vielleicht noch schöner: Erwin Gurke.