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topicnews · September 1, 2024

In drei Stunden auf Tiktok vom Katzenvideo zur Terror-Chatgruppe

In drei Stunden auf Tiktok vom Katzenvideo zur Terror-Chatgruppe

Immer jüngere Attentäter töten für den Islamischen Staat. Terroristen wie der Angreifer von Solingen schauen Hunderte Stunden Hasspropaganda auf ihrem Handy, bevor sie zuschlagen. Was passiert da? Ein Abstieg in menschliche Abgründe.

Es dauert nur neun Minuten, bis mir das erste Mal jemand etwas als «haram», als islamisch untersagt, verbieten will. 29 Minuten, bis der erste geheimdienstlich bekannte Islamist auf meinem Handy auftaucht. Und drei Stunden, bis ich in einen Terroristen-Chat gelange. Ohne auch nur einmal irgendetwas in ein Suchfeld getippt zu haben.

Kurz davor habe ich mein neues Handy mit neuer SIM-Karte in Betrieb genommen. Das Telefon weiss nichts über mich, ausser dass ich mich als 22-jährigen Zürcher ausgebe, mit einem Namen, der Migrationshintergrund vermuten lässt.

Ich lade mir Tiktok herunter. Damit will ich zwei Fragen klären: Wie sieht es aus, wenn man sich online radikalisiert? Und was zeigt mir das Handy, wenn es merkt, dass mich jihadistische Inhalte interessieren?

Es wird ein Blick in den Abgrund.

I. Der Einstieg

Es beginnt harmlos. Tiktok zeigt mir ein Katzenvideo. Uninteressant, ich wische nach oben. Es folgt eine Schlägerei in Zürich, an der ich länger hängenbleibe. Dann Landschaftsbilder aus Grindelwald. Wisch. Eine kleine Überschwemmung in Zürich. Danach Videos aus Wien, die mit einem gefälschten Soundtrack unterlegt sind, so dass es sich anhört, als schiesse jemand in der Innenstadt mit einem Sturmgewehr herum. Landschaftsbilder – der Oeschinensee. Männer, die vor der Polizei wegrennen.

Es folgt eine Influencerin, die Kopftuch trägt. Ich schaue ihr länger zu. Sie tanzt zu einem Track namens «More Pretty Girls» – von religiösem Konservatismus ist nicht viel zu spüren. Gleich danach kommt AfD-Propaganda («Deutschland wacht auf 😍»). Testet der Algorithmus, ob ich der muslimischen Influencerin zugesehen habe, weil ich den Islam mag oder hasse?

Danach kommt ein Nachrichtenbeitrag über die Blaue Moschee in Hamburg, die im Juni als verfassungsfeindlich geschlossen wurde. Dann Videos einer schiitischen Demonstration auf dem Zürcher Helvetiaplatz. Und danach taucht da ein junger Mann auf, mit Hut, Brille, Bart und trainierten Oberarmen. Er erklärt, Tätowieren sei «haram».

Ab da geht es schnell. Zuerst folgt noch einmal ein Video zur verbotenen Blauen Moschee, diesmal mit klarem Solidaritätseinschlag für das Gotteshaus, das von Nachrichtendiensten als klandestines Werkzeug des iranischen Regimes eingeschätzt wird. Danach sehe ich religiöse islamische Lieder. Der Algorithmus traut der Sache offenbar noch nicht ganz. Er testet nochmals, ob er mich für rechtspopulistische Inhalte begeistern kann, und zeigt mir Alice Weidel, die erklärt, warum die Grenzen geschlossen werden müssten.

Ich sehe Koranverteilungsaktionen. Und einen deutschen Gaza-Influencer, der den türkischen Präsidenten dafür feiert, dass er die medizinische Notfallbehandlung eines Passagiers verweigert hat, weil dieser das Pech hatte, ausgerechnet an Bord eines Flugzeugs der israelischen Airline El-Al zu kollabieren. «Vallah Erdogan bester Präsident!», sagt der Mann in meinem Handy mit einem Grinsen im Gesicht.

II. Der deutsche Salafist

Nach 29 Minuten taucht ein Mann auf meinem Telefon auf, der den deutschen Sicherheitsbehörden bestens bekannt ist.

Es ist Abul Baraa, Prediger einer Moschee in Braunschweig. Baraa wird fast jedes Jahr in den Berichten der deutschen Inlandsgeheimdienste namentlich erwähnt. Als wichtiger Islamist, der es schafft, «die salafistische Ideologie in einfach zu verstehender und jugendgerechter Sprache» zu verbreiten. Baraa habe Verbindungen in den «gewaltbereiten jihadistischen Salafismus» unterhalten. Er trage zur «Normalisierung des Islamismus» bei, schreibt der deutsche Verfassungsschutz.

Davon werde ich gerade Zeuge. Als ich Baraa zum ersten Mal sehe, hält er keine wütende Predigt gegen Ungläubige. Stattdessen macht er einen Witz: «Manchmal siehst du einen Bruder, der hat so eine enge Jeans, du sagst dem ‹Salam Aleikum› und der sagt . . .» Baraa verstellt seine Stimme in eine Fistelstimme. «Seine Stimme ist piepsig, weil die Hose so eng ist», erklärt der Islamist seine Pointe.

Es ist ein banaler Witz. Aber dahinter steht eine Weltsicht, die mit der deutschen und der schweizerischen Mehrheitsgesellschaft nicht kompatibel ist. Doch genau diese Ideologie verkaufen Baraa und andere Prediger mit viel Geschick an die deutschsprachige Jugend.

Die Videos sind Ausschnitte aus Baraas Predigten mit Live-Publikum. Fast immer sind sie im Frage-Antwort-Format gestaltet. Zuschauer, oft junge Leute, fragen Baraa zum Beispiel, ob man als Muslim Botox verwenden oder ob man das Spiel Fortnite spielen dürfe. Zweimal Nein.

Dabei wirkt Baraa meistens wie ein harmloser Mann. Breites Grinsen, angenehme Art, gutes Deutsch. Doch ab und zu wird sein Gesicht ernst. Dann erzählt er beispielsweise, dass ein Muslim keine Kritik am Islam üben dürfe. Dass solche Muslime nur ein Werkzeug der «Kuffar», also der Ungläubigen, seien, «die uns auf eine bestimmte Weise angreifen, durch Leute, die so aussehen wie wir, die unsere Sprache sprechen. Damit versuchen sie uns zu bekämpfen.»

Offen predigt der Salafist keine Gewalt. Nähe zum IS stellt er in Abrede. Doch ist das überhaupt so wichtig? Auch einer der Terroristen, die das Taylor-Swift-Konzert in Wien angreifen wollten, soll unter seinem ideologischen Einfluss gestanden haben.

Die Behörden sind überzeugt, dass die Salafisten um Baraa gefährlich sind. Der Verein, bei dem er meistens predigte, wurde im Juni als verfassungsfeindlich verboten, in der Moschee gab es eine Razzia. Doch auf Tiktok begegnet mir dieser Rockstar unter den Salafisten jetzt trotzdem ständig. Er dominiert meinen Feed.

III. Frauengesichter existieren nicht mehr

Inzwischen besteht meine Welt auf Tiktok fast nur noch aus radikalen Interpretationen des Islam. Alles andere hat aufgehört zu existieren.

Auf dem Handy taucht ein neuer salafistischer Prediger auf. Er erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der seine Mutter geschlagen und ihr die Nase gebrochen hat. Es ist nur die Vorlage, damit der Prediger ein bemerkenswertes Argument vorbringen kann: «Einer, der nicht betet – schlimmer als diese Person, der seine Mutter geklatscht hat!», ruft er in die Kamera. Dafür gibt es 9900 Likes. In den Kommentaren schreibt jemand: «Ich bin zwar 15, aber ich möchte auch gerne so wie du werden, ich liebe dich über alles, wenn ich deine Videos sehe, habe ich Tränen im Augen subhanallah.» Ich klicke auf das Profil des jungen Fans. Wenn er nicht Islamisten anhimmelt, lädt er farbenfrohe Ausschnitte von Computerspielen hoch.

Mit der Zeit verschwinden praktisch alle Frauen aus meinem Feed. Zumindest als sichtbare Wesen. Die Kopftücher werden immer grösser, bis sie irgendwann zu Vollverschleierungen werden. Der Algorithmus merkt, dass mir das offenbar besser gefällt. Ich sehe zwei Freundinnen, die im Nikab zusammen durch Wien rennen.

Eine Zeitlang sind fast alle Frauen in meinem Tiktok komplett verschleiert, von Kopf bis Fuss. Westliche Kleidung gibt es nicht mehr. Nur einmal taucht eine junge Frau auf – geschminkt, die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Doch sie ist nur da, um den Glaubensübertritt anzupreisen. «Warum konvertieren so viele europäische Mädchen zum Islam?», schwebt als Textzeile über ihrem Kopf. «Wir sind aufgewacht. Wir sind aufgewacht. Wir sind aufgewacht», tönt eine Stimme aus dem Off.

Auf dem Bildschirm erscheinen junge Muslime, die bei einer Strassenumfrage Leute bitten, Koransuren zu rezitieren. Gerade ist ein kleines Mädchen an der Reihe, sicher nicht älter als sieben Jahre. Sie steht in einer deutschen Innenstadt und trägt kurze Hosen. Aber jemand hat ihre Beine verpixelt.

Tiktok hat für mich eine Welt geschaffen, von der die Taliban nur träumen könnten.

IV. Eintritt in die Terrorgruppe

Ich bin seit 3 Stunden und 13 Minuten auf Tiktok, als ich erstmals mit explizitem Terrormaterial in Kontakt komme.

Immer noch suche ich nicht danach. Ich gebe keine IS-Begriffe in die Tiktok-Suche ein. Stattdessen klicke ich mich bei Videos, die Tiktok mir vorschlägt, in den Kommentaren von Profil zu Profil, wie es ein gelangweilter Jugendlicher machen würde. Bei einem Profilbild mit weissem Dreieck auf einer schwarzen Flagge bleibe ich hängen.

Das Profil veröffentlicht Videos, in dem bewaffnete Gotteskrieger zu sehen sind, unterlegt mit religiösen Gesängen. Der Text wird auf Englisch eingeblendet: «Wir rüsten uns mit Sprengstoff aus. Damit vernichten wir die Tyrannen. Der Tod ist, wo mein Leben wirklich beginnt.»

Ein anderer Beitrag ist eine Slide-Show. Das erste Bild zeigt das Innere einer Flugzeugkabine mit dem englischen Text «Du & Ich». Dann den Blick aus dem Fenster, darunter steht: «reisend nach». Und das dritte Bild zeigt ein jihadistisches Trainingscamp in der Wüste.

Dieses Bild lässt sich zurückverfolgen. Es ist die Aufnahme eines Ausbildungslagers der Jihadistengruppe Jaish al-Adl, die in der iranisch-pakistanischen Grenzregion Belutschistan aktiv ist. Der Account schwört dieser Gruppe die Treue.

Dann sehe ich mitten auf dem Tiktok-Profil einen Link. Er ist die Eintrittspforte zu menschlichen Abgründen.

Dahinter verbirgt sich ein Server auf der amerikanischen Plattform Discord, die Gruppen-Chats und Sprachtelefonie anbietet, was vor allem für Online-Spiele gedacht ist. Ich klicke auf den Link. Damit werde ich Teil eines Gruppen-Chats mit 23 Mitgliedern. Alle, die sich aktiv äussern, sind – mindestens im Geiste – terroristisch gesinnte Jihadisten. Eine automatisch generierte Nachricht von Discord begrüsst mich: «Willkommen! Sag hallo!»

Die Online-Jihadisten posten Videos in den Chat. Beim ersten, das ich anklicke, weht in der Ecke die schwarze Fahne des Islamischen Staates. Auf einem Tisch steht ein Kessel mit Dutzenden langen Messern. Eine Gruppe schwarz gekleideter Männer geht darauf zu. Jeder schleppt einen Gefangenen vor sich her und nimmt ein Messer aus dem Kessel.

Die IS-Terroristen werden ihre Gefangenen mittelalterlich hinrichten. Das Video schneidet vorher ab. Es ist ein Ausschnitt aus einem IS-Propagandafilm, gedreht um 2014 in Syrien, bei dem sechzehn syrische Soldaten exekutiert wurden.

Gleich danach wird es expliziter. Ich sehe, wie Maskierte mit automatischen Gewehren Dutzende gefesselte Gefangene niederschiessen und dabei «Allahu Akbar» schreien.

Man kann der Radikalisierung hier live zuschauen. Ein Neuling im Chat fragt unbedarft, ob der Islamische Staat und ISIS das Gleiche seien. Ein anderer bittet um Mohammed-Überlieferungen, die ihn dazu befehligen, «Nicht-Kombattanten» anzugreifen.

Legt er sich gerade vor meinen Augen die religiöse Grundlage für ein Attentat gegen Zivilisten zurecht? Jemand liefert ihm die gewünschten Belege.

Weiter oben hat jemand eine Kalaschnikow und einen Koran gepostet. Er schreibt dazu: «Ein Buch, das leitet, und ein Schwert, das den Sieg schenkt».

Besonders ins Auge sticht ein Video, das einen jungen Mann zeigt, in der rechten Hand eine Pistole, in der linken eine Machete. Es ist das Bekennervideo von Kujtim F., der 2020 einen Terroranschlag in der Wiener Innenstadt beging. Dazu schreibt der, der es gepostet hat: «Das bin ich.»

Getauscht werden auch gewaltvolle religiöse Lieder. Ein User, der das Wort «Jihad» im Namen trägt, postet das Lied «Go and answer the call». Auf Englisch dröhnt es aus dem Lautsprecher: «Töte sie alle, es ist jetzt Zeit aufzustehen. Schneide ihre Kehlen durch, schau ihnen beim Sterben zu.»

Mit Angaben über sich selbst sind die Chat-Mitglieder zurückhaltend. Einer lässt durchblicken, dass er aus Schweden komme, ein anderer aus Pakistan. Sie wirken sehr jung. Sind es nur Kids, die sich wichtig machen?

Der Zürcher Attentäter, der dem IS die Treue schwor und im Frühling einen Juden niederstach, war auch nur 15 Jahre alt. Seine Social-Media-Profile zeigten nach dem Angriff: Er war zwar tiefer in der Szene versunken – aber so viel anders als die Leute in diesem Chat hat er nicht geschrieben.

Während ich mir Notizen mache, postet ein Chat-Mitglied, dessen User-Name einen Bosnien-Bezug offenlegt, ein neues Propagandavideo. Man sieht darin, wie Geiseln durch Schüsse in den Hinterkopf exekutiert werden.

Es hört nie auf.

V. Jemand greift ein

Am nächsten Morgen ist alles weg. Nur Screenshots bleiben. Der Chat ist gelöscht und mein Account eingeschränkt, weil die Gruppe gegen die «Regeln für gewalttätigen Extremismus» verstossen habe, informiert mich Discord.

Viel bringt das nicht. Der Chat hatte über einen Monat existiert, bevor ich ihn fand. Ohnehin vernetzt man sich schnell wieder. Ich chatte auf Tiktok den Betreiber der Gruppe an. Er schickt mir, ohne nachzufragen, einen Telegram-Link, wo er den Chat nun weiterführt. Wir sind dort nur noch zu viert. Aber wir könnten weiter miteinander schreiben.

Es ist nur ein winzig kleiner Ausschnitt eines Hunderttausende Profile umfassenden Netzwerks. Klickt man sich dort durch, bekommt man ein Gefühl dafür, warum es Nachrichtendiensten kaum je möglich sein wird, diese Masse vollständig zu überwachen und jeden Anschlag zu verhindern.

Deshalb, so berichtete es diese Woche die ARD, verfolgen Nachrichtendienste auch einen anderen Ansatz. Sie versuchen jene Anlaufpunkte zu überwachen, bei denen Terroristen vor ihrem Anschlag beispielsweise ein Bekennervideo hinschicken. Das bedingt technische Aufklärung der jihadistischen Computer-Infrastruktur, etwa des IS. In der Vergangenheit soll es zu solchen Operationen gekommen sein. Vor allem durch amerikanische Dienste, die über sehr viel mehr Mittel als Nachrichtendienste in Deutschland oder der Schweiz verfügen. Sie teilen viele ihrer Erkenntnisse mit den Partnern in Europa. Doch das verhindert nicht jeden Anschlag.

VI. Der Kontakt zum IS

Johannes Saal von der Universität Luzern forscht seit Jahren zu jihadistischer Radikalisierung. Er sagt: «Solche Chat-Gruppen, die von Sympathisanten betrieben werden, sind der Dunstkreis, in dem der IS Attentäter rekrutiert.» Direkt oder über Kontakte, die jemand vermittelt, kann es passieren, dass ein radikalisierter Europäer so online in Kontakt mit tatsächlichen IS-Angehörigen kommt, die in Syrien oder Afghanistan sitzen. Saal sagt: «Diese stacheln die Anschlagswilligen weiter an, geben praktische Tipps, auch zur Aufnahme der üblichen Bekennervideos, in denen die Attentäter dem IS die Treue schwören.» Diese Videos verbreitet der IS dann zur Maximierung der Propaganda.

Der Online-Zuspruch eines IS-Mitglieds könne auf einen jungen Radikalisierten grossen Eindruck machen, sagt Saal. Man dürfe Radikalisierung aber nicht auf den Online-Faktor reduzieren. «Sehr wichtig sind noch immer die Kontakte im realen Leben. In der Schweiz besonders um Hotspots wie Winterthur oder Schaffhausen. Diese können sich aber auch aus Online-Aktivitäten entwickeln», sagt Saal.

Ich gehe zurück auf Tiktok und gebe mich jetzt etwas aktiver. Ich folge einigen IS-nahen Profilen, die beim Durchklicken auftauchen. Ein paar äusserst radikalen Videos gebe ich ein Like. Das macht die Timeline erneut radikaler.

Da ist immer noch der Braunschweiger Prediger Abul Baraa. Werbung für eine Gebets-App. Eine Frau in einer Burka. IS-Flaggen.

Kurz bevor ich das Jihad-Handy endgültig abschalte, stosse ich beim Durchstöbern von Profilen auf ein Bild mit einem Zitat von Abu Muhammad al-Adnani, der verstorbenen Nummer zwei des Islamischen Staates. «Wenn du einen ungläubigen Amerikaner oder Europäer töten kannst – dann vertraue auf Allah und töte ihn auf irgendeine Art und Weise. Ganz egal wie.»

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