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topicnews · September 10, 2024

Juristische Ausbildung in Zeiten der Klimakrise – Verfassungsblog

Juristische Ausbildung in Zeiten der Klimakrise – Verfassungsblog

Während die Fragestellungen der sozial-ökologische Transformation wohl in die meisten unserer Lebensbereiche vorgedrungen sind, bleibt ein Bereich bisher noch überraschend unberührt: die juristische Ausbildung. Dabei ist weder die Rechtswissenschaft noch die juristische Ausbildung ganz unbeteiligt. Mögliche Zusammenhänge zwischen sozial-ökologischer Transformation und Rechtswissenschaft aufgreifend, will dieser Beitrag aufzeigen, welche Relevanz die Klimakrise auch für die juristische Profession und ihr Ausbildungssystem hat.

Der Begriff der sozial-ökologischen Transformation wurde geprägt vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Dieser versteht unter der sozial-ökologischen Transformation die Umstellung der „energetischen Grundlagen auf erneuerbare Energien im Sinne einer Dekarbonisierung“ und die Überwindung der bisherigen fossilnukleare Wirtschaftsweise. Nicht zufällig knüpft der Begriff der Transformation an den von Polanyi geprägten Begriff „Great Transformation“ an; der Wissenschaftliche Beirat hat sich in seiner Begriffsfindung sogar explizit von Polanyi inspirieren lassen. Wenn auch für den Wissenschaftlichen Beirat daraus keine inhaltlichen Konsequenzen folgen, und es sich wohl mehr um eine rein sprachliche Inspiration handelt, gibt es doch gute Gründe nachzuverfolgen, wie die sozial-ökologische Transformation mit der von Polanyi beschriebenen Great Transformation zusammenhängt. Denn gerade in den Details der Transformation und ihrer Hintergründe wird deutlich, warum auch die Rechtswissenschaft am Thema der sozial-ökologischen Transformation nicht vorbeikommt.

Markt und Klimawandel

Polanyi beschreibt mit der großen Transformation die Herausbildung von Marktwirtschaften in Zeiten der Industrialisierung, ausgelöst durch Einhegung von Land, Warenfiktion von Arbeit, Boden und Geld. Diese Transformation ist die Grundlage für die heutigen Wirkweisen des Marktes, und damit einem Wirtschaftssystem, das entscheidend nicht nur durch das Ausnutzen von Ungleichheiten (national und international), sondern auch durch das Ausbeuten von natürlichen Ressourcen geprägt ist. Folge ist nicht nur eine wachsende Ungleichheit, sondern auch die Klimakrise, vor der wir heute stehen. Diese beiden Transformationen, die der Vergangenheit und die der Zukunft, hängen untrennbar miteinander zusammen, die sozial-ökologische Transformation können wir nicht herbeiführen, ohne die Transformation zu verstehen, die unseren heutigen Zustand herbeigeführt hat.

Zusammenhang zwischen Recht und Markt

Inwiefern uns das als Jurist:innen berührt, hängt davon ab, wie wir die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Recht und Markt bzw. Recht und kapitalistischer Lebensweise beantworten. Die Neoklassik, zum Teil die Neue Institutionenökonomie, in gewisser Hinsicht auch der Marxismus, haben sich traditionell wenig mit der Rolle des Rechts für die Konstitution des Marktes befasst; das erklärt möglicherweise auch, warum diese Zusammenhänge nicht im Fokus der Rechtswissenschaft stehen. Dieses Schweigen vernachlässigt aber die Tatsache, dass die Einhegung von Land durch Recht und Rechtsprechung möglich gemacht wurde. Wie über Arbeit, Boden und Geld verfügt werden kann, hängt im starken Maße vom Recht ab; ebenso, dass es möglich ist, Kapital nicht nur in der Personengesellschaft, sondern auch in einer Körperschaftsgesellschaft zu strukturieren, und sich damit der Haftung zu entziehen.

Auch das Verfassungsrecht ist nicht vom Marktgeschehen abgekoppelt: Schutz von Eigentum, Garantie der Privatautonomie, Grundrechtsstatus von Unternehmen sind nur einige Beispiele im liberalen Konstitutionalismus, wo Recht nicht nur dem Markt ermöglicht, den Regeln seines vermeintlichen Naturzustandes zu folgen, sondern den Markt konstituiert. Nicht nur im internationalen, sondern auch im nationalen Raum schafft der Eigentumsschutz dabei exklusive Zugriffsmöglichkeiten auf natürliche Ressourcen und ist damit essenziell für ein System, das von Extraktivismus und Monopolisierung der Natur geprägt ist. Die Privatautonomie, das verfassungsrechtlich geschützte „Lebenselixier des Privatrechts“ verkennt die strukturelle Unterlegenheit von Arbeitnehmer:innen in Vertragsverhandlungen mit Unternehmen, deren Gewinne primär innerhalb des eigenen Unternehmens bzw. unter den Anteilseigner:innen ausgeschüttet werden, während die externen Effekte des Extraktivismus die gesamte Menschheit berühren.

Es sind also bereits die Grundwertungen des Verfassungsrechtes, in denen entscheidende Weichenstellungen liegen, die nicht nur den mehr oder weniger freien Markt ermöglichen, sondern auch conditio sine qua non für die Ursachen der Klimakrise sind. Dass (Verfassungs-)Recht zahlreiche Möglichkeiten offenbart, dies auch anders zu sehen als in der Wahrnehmung des liberalen Idealtyps, zeigen die Diskussionen zum transformativen Verfassungsrecht (eben nicht nur im postkolonialen Süden, sondern auch im Norden). Auch die Urteile des Bundesverfassungsgerichts und EGMR machen deutlich, dass die Auswirkungen des Klimawandels der Verwirklichung von grundrechtlichen Freiheiten im Weg stehen und damit verfassungs- und menschenrechtliche Relevanz haben. Noch weniger exploriert sind gleichheitsrechtliche Fragen, die sich im Hinblick auf die stärkere Betroffenheit von gewissen Personengruppen aber nicht vermeiden lassen werden – so sind beispielsweise Frauen nicht nur aufgrund ihres Geschlechts, sondern auch wegen ihres im Durchschnitt geringeren Vermögens stärker den Risiken des Klimawandels ausgesetzt – was im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Gleichstellungsauftrag zukünftige Problemstellungen schon erahnen lässt.

In Folge wird auch das (Verfassungs-)Recht sich zunehmend damit befassen müssen, die Rahmenbedingungen und Erfordernisse für eine nachhaltige Zukunft auszudeklinieren. Damit dies nachhaltig ist, muss sich die (Verfassungs-)Rechtswissenschaft aber auch damit befassen, inwiefern die aktuellen sozialen und ökologischen Krisen in den internalisierten Strukturen des Rechts begründet sind.

Was bedeutet das für die juristische Ausbildung?

Darin liegt bereits eine erste offensichtliche Konsequenz für die juristische Ausbildung: Die Klimakrise und ihre Ursachen müssten an den juristischen Fakultäten und in der rechtswissenschaftliche Lehre Beachtung finden. Während sich zum Thema des Kolonialismus, das von der Frage des Wirtschaftssystems nicht zu trennen ist, im internationalen, zum Teil auch deutschen wissenschaftlichen Diskurs, eine kritische Selbstreflektion zumindest vereinzelt herausbildet, erstreckt sich dies noch lange nicht auf ökonomische Fragestellungen.

Dabei ist es längst überfällig, dass die neue Generation an Jurist:innen dazu befähigt wird, sich mit Fragen der Transformation zu befassen, dazu zu forschen und politisch verantwortlich zu entscheiden. Dass dies bisher nicht passiert, hängt auch mit dem Selbstverständnis der Jurist:innen zusammen: Es ist kein Geheimnis, dass die dogmatische Spezialausbildung von Jurist:innen politisch gewollt ist. Jurist:innen sollen lieber nicht zu viel in Frage stellen und das System durch konsequente und einheitliche Rechtsanwendung stabilisieren. Das Problem ist nur, dass Recht natürlich nie neutral ist, sondern immer implizierten (politischen) Wertungen unterliegt. In Zeiten des Klimawandels stellt sich mit gesteigerter Dringlichkeit die Frage, ob wir an dieser konservativen, retardierenden Funktion des Rechts noch festhalten können. Wenn die Strukturen selbst nicht nachhaltig sind, wird ein stabilitätsorientierter Struktur-Konservativismus lebensgefährdend.

Zurück in der Realität des deutschen Jurastudiums sieht man sich bisher hingegen mit ganz anderen Fragen konfrontiert. Angesichts der extremen Belastungssituation des Staatsexamens (in Hinblick auf Fragen des nachhaltigen Umgangs mit Menschen und ihren Kapazitäten auch ganz nah am Thema) kommt die Tagesdebatte bereits kaum hinterher, technische Fragestellungen wie Kommentarliteratur, E-Examen oder Abschaffung der Ruhetage zu diskutieren. Wenig überraschend ist deswegen, dass die Feststellungen zum fehlenden Reformbedarf auf heftigen Widerstand gestoßen sind, wie die Debatte unter dem Hashtag iur.serious zeigt.

In einem solchen Diskurs bleibt daher bisher erst recht kein Raum für Fragen der Transformation, die aber deswegen nicht weniger relevant sind. Dabei wird zum Thema Nachhaltigkeit in und durch Lehre gleichwohl schon heftig diskutiert, zum Teil auch implementiert. Von diesen Debatten zu Inhalten und Didaktik ist die Rechtswissenschaft aber noch weit entfernt, mit der Würzburger Law Clinic Transformationsrecht als seltene Ausnahme. Ein Vorschlag wird bisher im Rahmen des earth system law diskutiert: ein theoretischer Ansatz, der fordert, dass das Recht das gesamte Ökosystem, mit allen seinen heutigen und zukünftigen Akteuren, miteinbeziehen muss. Auch wenn es auf theoretischer Ebene an Kritik nicht fehlt, wird in diesem Vorschlag auch viel Wertvolles diskutiert: Im Fokus stehen Zielvorgaben wie Interdisziplinarität, Intradisziplinarität und Transdisziplinarität, die auch für die juristische Ausbildung einiges an Bedeutung mit sich bringen können. Diese konkreten Forderungen sind insofern nicht so weit weg von den Diskussionen, die sich im Anschluss an den Bericht des WBGU gestellt haben. Auch hier stehen im Fokus die Problemorientierung, Interdisziplinarität, Intradisziplinarität sowie Transdisziplinarität. Der Beitrag will im Folgenden kurz skizzieren, welche Bedeutung diese Konzepte für die Rechtswissenschaft haben (könnten).

Interdisziplinarität berührt Fragen der inhaltlichen Lücken, die gerade im Hinblick auf die Forschung zur Klimakrise und ihren Ursachen dadurch entstehen, dass Disziplinen nicht miteinander sprechen. Dies gilt auch für die Rechtswissenschaft, eine Disziplin, die bisher leuchtendes Beispiel der Monodisziplinarität ist. Nicht nur in der Forschung, auch in der Lehre ist es aufgrund der systemischen Ursachen des Klimawandels essenziell, dass die Studierenden dazu befähigt werden, sich interdisziplinär mit Fragen der sozial-ökologischen Transformation zu beschäftigen. Um auf Ebene des Verfassungsrechts zu bleiben: Ist eine Ausprägung der Marktwirtschaft, deren Folgen die Grundlagen des Zusammenlebens bedrohen, wirklich die bevorzugte Wirtschaftsform des Grundgesetzes? Perspektiven der politischen Ökonomie könnten hier helfen, rechtliche Diskussionen nicht nur im Vakuum zu führen, sondern Implikationen der rechtswissenschaftlichen Dogmatik besser zu verstehen.

Vergleichbare Lücken lassen sich in der innerfachlichen Kultur beobachten: Auch innerhalb der Rechtswissenschaft dominiert die Säulenstruktur, wenngleich die Forschung die Dichotomie vom Privaten und Öffentlichen schon lange in Frage stellt. Intradisziplinarität heißt ein Aufbrechen der Säulenstruktur und mehr projektorientiertes Arbeiten. Dies würde ermöglichen, Nachhaltigkeitsfragen nicht mehr nur entsprechend ihrer gesetzlichen Verortung zersplittert zu denken, sondern als umfassende Fragen, die zueinander in Beziehung stehen und einander bedingen. Wie kann man soziale und ökologische Fragen in der Transformation zusammen denken? Lassen sich Unternehmen angesichts ihrer externalisierenden Auswirkungen auf andere „Stakeholder“ noch rein privatrechtlich denken?

Nicht weniger relevant sind aber didaktische Fragen, die allgemein nicht im Fokus der Rechtswissenschaft stehen. Transformation heißt auch, die Lehre partizipatorisch, inklusiv und multiperspektivisch zu gestalten. Wichtiger Ansatzpunkt ist hier die Transdisziplinarität, das heißt die Einbeziehung von gesellschaftlichen Akteuren. Gerade im Hinblick auf die Klimakrise wird es essenziell, relevante Forschungsfragen richtig zu identifizieren und in ihrer Komplexität zu erfassen. Eine am Gemeinwohl orientierte Rechtswissenschaft muss sich folglich verstärkt für eine Pluralisierung des Wissens öffnen. Die Einbeziehung des Wissens nicht nur von Wissenschaftler:innen, die zur Klimakrise und ihren Gründen forschen, sondern auch derer, die vom Klimawandel überdurchschnittlich stark betroffen sind, würde ermöglichen, dass die Rechtswissenschaft ihre Interdependenzen mit dem gesellschaftlichen Zuständen besser erfasst und reflektiert.

Dies erfordert in Konsequenz auch eine umfassende Internationalisierung. Die Rechtswissenschaft befindet sich viel stärker als andere Disziplinen nicht nur in ihrem fachlichen, sondern auch in ihrem nationalen Silo. Das führt zur Marginalisierung anderer Perspektiven: Gleichgültigkeit für globale Zusammenhänge hängt auch mit fehlender Repräsentation von anderen Stimmen zusammen. Während sich manche Teile der deutschen Bevölkerung der Globalisierung momentan verschließen wollen, könnte auch die juristische Ausbildung von einem stärkeren internationalen Fokus profitieren. Englischsprachige Lehrveranstaltungen, in denen Studierende aus verschiedenen Ländern aufeinandertreffen und – gemeinsam – studieren; Rechtsvergleichung nicht nur in Schwerpunkt-Seminaren; mehr Offenheit der juristischen Fakultäten für nicht deutsche Jurist:innen. Es gibt einige Gründe seine Tore für eine Disziplin zu öffnen, die nicht nur längst global ist, sondern in der auch andere gute Ideen haben.

Angesichts der bisherigen Schwerpunktsetzung ist der Hinweis auf die sowieso schon überbordende Stoffmenge auch nicht ganz überzeugend. Es erschließt sich nicht, warum in Zeiten sich alltäglich ereignender Umweltkatastrophen von Examenskandidat:innen Detailwissen zur Mängelrechtsprechung bei Auto- und Pferdekauf erwartet wird. Geschweige denn von dogmatischen Streitereien, die sich durch Gesetzesänderungen schon längst erledigt haben, aber so wunderbar eignen, um das Prüfungswissen von vor 20 Jahren am Leben zu halten. Gleichzeitig bleibt kein Raum im prüfungsrelevanten Baurecht die – sehr praxisrelevanten – Aspekte der umweltrechtlichen Regelungen zu thematisieren. Erst recht nicht, um etwa zu diskutieren, inwiefern die Energiewende artenschutzgerecht gestaltet werden kann. Hier zeigt sich auch, wie Inhalte mit Struktur-Konservativität zusammenhängen: Wenn wie in den meisten anderen Studiengängen Seminare für die Lehre durch den Mittelbau geöffnet sind, erlaubt die Einbeziehung von jüngeren Menschen eine ganz andere Responsivität von Lehre auf aktuelle Entwicklungen. Ein Staatsexamen, das an seinem zentral definierten Prüfungskatalog festhält, mit der Lehre in der festen Hand eines exklusiv geformten Professoriums (zur Diversität in der Rechtswissenschaft, siehe hier und hier), wird bei aktuellen Entwicklungen, wie auch der der Transformation, den Anschluss verlieren. Eine Modularisierung, Öffnung der Lehre, zusammen mit radikaler Straffung des Staatsexamensstoffes, könnte hier ganz neue Möglichkeiten schaffen – und gleichzeitig der Rechtswissenschaft ermöglichen, ihr geliebtes Staatsexamen nicht ganz aufgeben zu müssen.

Denn der Klimawandel wird für das Zögern der deutschen Rechtswissenschaft keine Geduld haben. Ob eine Transformation am Ende dann nur die Dekarbonisierung unserer energetischen Grundlagen meint, oder doch eine umfassende, vielleicht sogar international reichende, sozial-ökologische Transformation, ist letztendlich auch eine Wertentscheidung. Diese Wertentscheidung bringt aber Fragen zurück in die juristische Ausbildung, die Kernwerte des Rechtswesens darstellen: Recht ist schließlich kein Selbstzweck, sondern strebt nach Gerechtigkeit – oder sollte es zumindest versuchen. Was, wenn nicht die Klimafrage, bietet da Chancen für eine neue Debattenkultur. Denn die Klimafrage berührt die Menschheit nicht nur in ihrem Überleben, sondern eben auch zutiefst als Gerechtigkeitsfrage.